Die Gretchenfrage

Ohne Zweifel hat die Welt in den letzten Jahren an Geschwindigkeit zugelegt. Durch das Internet ist der Informationsfluss um ein Vielfaches schneller geworden als noch vor 20 Jahren. Einerseits macht das vieles einfacher. Andererseits müssen wir deshalb auch viel, viel schneller auf viel, viel mehr Informationen reagieren. Die „Dynaxität“ – eine unheilvolle Allianz der beiden Worte „Dynamik“ und „Komplexität“ – hat zugenommen und prägt das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Es ist ein Lebensgefühl, das kaum noch Raum kennt für die Dinge im Leben, die Zeit kosten ohne einen direkten Nutzen zu erzeugen. Für so etwas wie Pfeiferauchen ist eigentlich kein Platz mehr in dieser Welt.

Auch für Zeitungen scheint dort kein Platz mehr zu sein. Die Gratisnews aus dem Internet graben ihnen das Wasser ab. Die Frankfurter Rundschau hat letztes Jahr Insolvenz angekündigt und die Financial Times Deutschland ist ganz vom Markt verschwunden. Das Handelsblatt indessen versucht offensiv mit der Situation umzugehen. In einer Anzeigenkampagne wirbt die Wirtschaftszeitung für eine neue, digitale Art der Zeitung. Am Freitag habe ich die Anzeige das erste Mal gesehen. Sie zeichnet das Bild zweier Welten.

Oben sieht man ein altes Bild von Mick Jagger aus dem Jahre 1975. Ein entspannter interessierter junger Mann mit weißem Panamahut schmökert in seiner Zeitung. Die untere Hälfte stellt unter dem Claim „Journalismus für eine neue Generation“ die neue digitale Version des Handelsblatts vor. Dreimal am Tag – morgens um sechs, mittags um zwölf und abends um 20 Uhr – erscheint jetzt eine komplette Zeitung. Damit will der ehemalige Chefredakteur und jetzige Verlagschef Gabor Steingart vermutlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Endlich könnte er mit einem digitalen Journalismusprodukt Geld verdienen. Zugleich aber holt man in Sachen Aktualität zum Internet auf. Man passt sich an an den neuen Rhythmus der dynaxen Welt. Wie wir alle das in unserem Alltag zwischen SMS, Facebook, Twitter und E-Mails eben auch so tun.

Und hier könnte meine Geschichte auch schon enden, wenn ich nicht der Überzeugung wäre, dass sich die Situation gerade abermals ändert. Die gestiegene Dynaxität hat uns die Zeit für die schönen Dinge im Leben geraubt. Aber mit den schönen Dingen ist es vielleicht wie mit der Gesundheit. Erst wenn wir sie nicht mehr haben, lernen wir sie richtig zu schätzen. Und so könnte die steigende Dynaxität letztlich unsere Sehnsucht nach den schönen Dingen wieder erwecken.

Der Kölner Tabak- und Pfeifenhändler Peter Heinrichs beschrieb mir vor einiger Zeit, wie er mit Freude feststellt, dass die Anzahl junger Pfeifenraucher offenbar ansteigt. Vielleicht ist das ja ein erstes Anzeichen für die Rebellion gegen die steigende Dynaxität. Ich könnte mir vorstellen, dass wir uns in naher Zukunft alle entscheiden müssen. Zwischen einem Lebensgefühl wie es Mick Jagger im oberen Teil der Handelsblatt-Anzeige verkörpert und dem Lebensgefühl der steigenden Dynaxität mit drei Versionen der Zeitung am Tag. Wir werden uns selbst fragen müssen: Wie hast du’s mit der Zeit? Nehmen wir uns die Zeit für die schönen Dinge des Lebens oder verwerfen wir sie, weil sie zu viel Zeit kosten?

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