Effizienzialismus

Vielleicht kennt Ihr das ja: Es gibt Sätze und Fragen, die wollen einem nicht mehr aus dem Kopf. Man grübelt immer und immer wieder über sie nach. Was steckt dahinter? Was ist der Sinn? Was wollte uns derjenige, der sie ausgesprochen hat, mit ihnen sagen?

Mir jedenfalls geht es so. Ziemlich oft sogar. Ich denke dann immer und immer wieder über diese Dinge nach. Nicht ständig, nicht ohne Unterlass, aber doch immer mal wieder. Manchmal einmal im Jahr, manchmal einmal im Monat. So geht es mir beispielsweise mit einem Satz aus einem Song der Band The Beautiful South. In dem 2004 veröffentlichten Stück This Old Skin heißt es „the first to find out that it is rainin’ is the last to find out it’s a flood”. Seit ich den Song das erste Mal gehört habe, frage ich mich: Was zum Kuckuck wollte die Band der Menschheit mit dieser Weisheit sagen? Ich weiß es immer noch nicht.

Nun ja, man kann nicht alles haben, oder? Immerhin habe ich letzte Woche eine Antwort auf eine Frage gefunden, die mich mindestens genau so lange umtreibt. Die Frage hat mein Doktorvater, Professor Wolfram Hogrebe, einmal während einer Vorlesung gestellt. Es ging damals darum, dass sich geschichtliche Epochen oft unter einem Schlagwort – meistens irgendeinem „Ismus“ wie etwa Absolutismus – zusammenfassen lassen. Ganz genau erinnere ich mich nicht mehr an das Thema. Ich weiß aber noch, dass Hogrebe uns Studenten fragte, unter welchem Schlagwort unserer Meinung nach wohl unsere historische Epoche dereinst zusammengefasst werde. Und diese Frage hat mich irgendwie nicht mehr losgelassen.

Zunächst dachte ich mir, dass es irgendetwas mit Demokratie oder Technologie zu tun haben müsste. Vielleicht würden künftige Generationen von unserer Zeit als dem Zeitalter des Technodemokratismus sprechen. Später dachte ich dann eher, dass wir wohl im Ökonomismus leben. Immerhin bildet der ökonomische Nutzen heutzutage ja fast für alles den Bewertungshorizont. Am Samstag aber hatte ich bei einem Spaziergang mit meiner Pfeife die große Erleuchtung. Wir leben im Effizienzialismus. Unser Götze ist weder die Demokratie noch die Technologie noch der wirtschaftliche Nutzen – zumindest nicht der langfristige. Unser goldenes Kalb ist die Effizienz.

Wir sind so damit beschäftigt den Einsatz unserer Mittel zu minimieren, dass wir gar nicht bemerken, dass am Ende kaum noch etwas Vernünftiges herauskommt. Denkt mal an die absurde Idee, Kindern bereits mit fünf Jahren die englische Sprache beizubringen. Denkt an die Eltern, die Ihre Kinder bereits im Kindergartenalter derartig fördern, dass keine Zeit zum Spielen mehr bleibt. Ich glaube, es war Friedrich Schiller der sagte: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Nun „Fack Ju Schiller“, würden wir ihm heute vermutlich antworten.

Wir beklagen uns allerorten über die so genannte Generation Y, die nichts mehr gewissenhaft und konsequent betreibe. Und dabei vergessen wir oft, dass Jugendliche, Studenten und Berufsanfänger heute unter einem enormen Zeit- und Leistungsdruck stehen. Wer nicht im Internet kopiert, hat als Student oft keine Chance mehr. Die Plagiatsdoktoren aus der Politik haben es ihnen immerhin vorgemacht. Bildung ist nur noch Ausbildung, nicht mehr Persönlichkeitsbildung. Dabei ist es doch auch die gebildete Persönlichkeit, die es uns ermöglicht einen guten Job und unsere Wirtschaft innovativ zu machen. Goethe nannte sie einst das „höchste Glück der Erdenkinder“. Fack Ju Göhte!

Dabei ist gegen Effizienz an sich ja gar nichts einzuwenden. Irgendwelche schlauen Menschen haben immerhin festgestellt, dass, wenn man nur 60 statt 100prozentigen Aufwand für die verschiedensten Dinge betreibt, man vermutlich dennoch 80prozentige Qualität erzeugen kann. Effizienz geht zwar auf Kosten der Effektivität, lohnt sich aber trotzdem irgendwie. „More with less“, sagt man dazu. Dumm nur, wenn de facto am Ende nur noch 50prozentige Qualität übrig bleibt, weil man es mit der Effizienz übertrieben hat.

In einer Nachbarstraße von uns wurde kürzlich ein altes Haus mit einem großen, schönen Garten abgerissen. Auf dem Grundstück stehen nun sechs mehrgeschossige Häuser in zwei Reihen. In den hinteren Häusern dürfte die Sonne echte Mangelware sein. Für einen Garten bleibt kein Platz mehr. Aber das Grundstück ist nun effizient genutzt.

Daran musste ich gestern denken, als ich meine Peterson Hänger zu einem Pfeifenspaziergang ausführte und mein Blick über die sechs frisch erbauten „Stadthäuser“ – ein Euphemismus für „Betonklötze“ – hinweg schweifte. Und ich dachte mir, wie gut, dass es noch Pfeifenraucher gibt. Bei ihnen kann man sich sicher sein, dass sie noch einen Sinn für Qualität haben – zumindest für Lebensqualität. Denn es gibt nichts Ineffizienteres als Pfeiferauchen. Außer vielleicht die Erziehung von Kindern, aber die wird ja auch zunehmend outgesourct.

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