Die Pfeife des Grauens

Hin und wieder gehen wir mit den Kindern zum Friedhof und besuchen dort das Grab meines Großvaters. Danach machen wir meistens noch einen kleinen Spaziergang über den Friedhof. Am Dienstagabend war das wieder einmal der Fall. Wir schlenderten durch die schmalen Wege zwischen den Gräbern. Die Sonne war bereits fast vollständig untergegangen, und ich muss zugeben, dass mir ein wenig unheimlich zumute war bei all den von den rot flackernden Kerzen beschienenen Grabsteinen. Wie fremdartige Riesen ragten um uns herum die Bäume in den dunklen Himmel empor. Ich bog in einen schmalen Weg ein, den wir sonst nicht gingen. Ich weiß nicht mehr genau, warum ich das tat, vermute aber, dass ich lediglich eine Abkürzung nehmen wollte.

Wie auch immer, jedenfalls fiel mein Blick auf ein Grab, das mir noch niemals zuvor aufgefallen war. Es handelte sich um die letzte Ruhestätte eines Mannes mit dem Namen Roderich Schmitz. Dieser Name erinnerte mich an eine Geschichte aus meiner Kindheit, die mich noch heute erschauern ließ. Für einen Augenblick erstarrte ich, und ich spürte, wie mir ein kalter Schauer den Rücken herunter lief. Verdammt, Roderich Schmitz – dieser Name jagte mir auch nach all den Jahren immer noch Angst ein!

Ich muss so ungefähr acht Jahre alt gewesen sein. Vielleicht auch neun. So genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls führte mich mein Schulweg damals direkt an dem kleinen Geschäft für Zeitschriften und Tabakwaren von Roderich Schmitz vorüber. Jedes Mal, wenn ich an dem kleinen bunten Schaufenster vorüberzog, erfasste mich der angenehme Duft von Pfeifentabak. Ich verlangsamte meinen Schritt, versuchte einen Blick ins Innere des Ladens zu erhaschen, traute mich jedoch nicht die halb geöffnete Tür aufzustoßen und hineinzutreten.

Eines Nachmittags indessen – ich war gerade an Schmitz‘ Geschäft vorüber gegangen – hörte ich ein kehliges Stöhnen aus dem Inneren hervorstoßen. Ich hielt inne und horchte. Da war es erneut. Nun war ich ein Junge von acht oder neun Jahren und machte mir nicht viele Gedanken über mögliche Szenarien, die sich im Inneren des Ladens abspielen mochten. Ich drehte einfach um und entschloss mich halb neugierig, halb ängstlich der Sache auf den Grund zu gehen.

Was ich vorfand war ein ebenso fremdartiges wie beunruhigendes Bild: Roderich Schmitz – man kannte ihn im Dorf – kniete auf dem Boden, den Kopf über einen großen Spiegel gebeugt, der unter ihm auf der Erde lag. Er schluchzte vernehmlich. Ganz offensichtlich weinte er.

Als er mich eintreten hörte, drehte er sich nach der Eingangstür um. Mich sah ein alter Mann – vielleicht um die 70 oder 80 Jahre – mit weißgrauen Haaren aus geröteten
blauen Augen an. „Junge“, brachte er hervor, „sieh mich an. Ich bin alt. Uralt!“ Dann schluchzte er wieder.

Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. Sollte ich meine Hilfe anbieten? Oder doch lieber die Flucht ergreifen? Noch ehe ich fähig war eine Entscheidung zu treffen, hatte sich Schmitz wieder beruhigt und war aufgestanden. Er entschuldigte sich sogleich für sein Verhalten und bot mir eine Limonade an. Ganz offensichtlich stand mir der Schreck noch im Gesicht.

Ungefähr fünf Minuten später saßen wir beide in der kleinen Küche hinten in Schmitz‘ Laden – er mit seiner Pfeife und ich mit meiner Limonade. Schmitz zog einige Male an der großen, dunklen Pfeife und begann mir zu erklären, was ich da eben gesehen hatte.

An diesem Tag ging ich ziemlich verstört nach Hause und konnte am Abend lange nicht einschlafen. Denn was Roderich Schmitz mir in seiner Küche erzählt hatte, war so seltsam, so unglaublich und so gruselig, dass ich mich bis heute nicht getraut habe, jemals irgendwem davon zu erzählen. Ihr seid nach all den Jahren tatsächlich die ersten, die es erfahren.

Schmitz sagte damals in seiner Küche zu mir: „Weißt du, mein Junge, ich mag ziemlich alt aussehen. Ja, ich bin ziemlich alt. Ich sehe aus wie ein achtzigjähriger Mann. Mein Körper ist achtzig Jahre alt – obwohl ich erst seit vierzig Jahren auf der Welt bin.“ Seine blauen Augen funkelten herausfordernd, als er das sagte.

„Ich bin alt, weil ich diese Pfeife hier rauchte“, sagte er und hielt sie in meine Richtung. „Normalerweise, meine Junge, normalerweise schenkt uns Pfeiferauchern unser Rauchgerät Zeit. Wir müssen uns die Ruhe und die Zeit nehmen, um eine Pfeife zu rauchen, verstehst du? Dadurch bekommen wir Zeit für uns selbst geschenkt.“

Er zog an der großen dunkelbraunen Pfeife und schenkte ihr einen grimmigen Blick. Dann fuhr er fort: „Als ich diese Pfeife das erste Mal rauchte, merkte ich schnell, dass sie etwas besonderes ist. Selbst der billigste Tabak wurde in ihr zum Hochgenuss. Sie zu rauchen bedeutet pure Wonne, und ich musste, ja ich musste sie einfach immer und immer wieder rauchen. Doch dieser Genuss hat einen Preis.“

Der alte seufzte und zog an seiner Pfeife. Seine dunkelblauen Augen, die mir etwas zu jung vorkamen für einen Mann seines Alters, sahen mich forschend an. Seltsam, aber ich hatte in diesem Augenblick das Gefühl als versuchte er in meinen Zügen irgendetwas zu lesen.

Schließlich senkte er seinen Blick und sagte: „Der Preis für den Genuss ist Zeit. Lebenszeit, um genau zu sein. Diese Pfeife, diese besondere Pfeife schenkt einem nicht die Zeit, sie nimmt sie einem. Es hat etwas gedauert, bis ich die Wahrheit erkannt habe, aber jetzt weiß ich es: diese Scheißpfeife hier macht, dass ich schneller alt werde. Sie raubt mir die Zeit. Irgendein Fluch lastet auf ihr, glaube ich. Es gibt nichts Schöneres als sie zu rauchen, aber durch jeden Zug altert man viel schneller als das eigentlich möglich ist. Ich habe einmal überschlagen, dass ich an Tagen intensiven Rauchens um Monate gealtert sein muss.“

Er sah mich an. „Du glaubst mir nicht?“, fragte er.

„Doch, doch“, sagte ich. „Es ist nur, dass …“

„Du verstehst nicht, mein Junge“, rief er. „Ich bin erst 42 Jahre alt. 42. Sehe ich etwa aus wie ein Zweiundvierzigjähriger?“

Ich sah ihn an und schüttelte langsam den Kopf. Was ich da vor mir sah, war ohne jeden Zweifel ein alter Mann. Ein sehr alter Mann. 80 vielleicht, günstigsten Falls 70 oder Ende 60, vermutlich jedoch eher Mitte 80. Aber 42? Niemals.

„Es ist dieses verfluchte Ding“, rief er und sprang auf. Ich zuckte zusammen. Jetzt hätte ich einen Wutanfall oder einen ähnlichen Ausbruch erwartet. Stattdessen aber geschah nichts dergleichen. Roderich Schmitz ließ sich wieder auf seinen Holzstuhl nieder und sagte mit ruhiger, kalter Stimme, ohne mich dabei anzusehen: „Du gehst jetzt besser, Junge. Ich habe etwas zu erledigen.“

Das brauchte der Alte mir nicht zweimal zu sagen. Immerhin hatte er mir mit seiner seltsamen Erzählung eine Heidenangst eingejagt – wobei ich nicht wusste, ob ich mich mehr vor seiner unheimlichen Geschichte oder vor ihm fürchten sollte.

„42“, murmelte ich am Dienstagabend. „42 Jahre war er alt.“ Als ich die Inschrift auf dem Grabstein von Roderich Schmitz las, erstarrte ich abermals. Roderich Schmitz war am 01.07.1943 geboren und am 31.10.1985 gestorben. Mit 42 Jahren!

Als ich wieder zu Hause war, versuchte ich mich genauer an die Pfeife zu erinnern, der Roderich Schmitz die Schuld für sein schnelles Altern gab. Konnte es einer meiner Pfeifen sein? Gab es vielleicht noch andere Pfeifen, die mit einem ähnlichen Fluch belegt waren? Und wenn das stimmte: Würde ich es rechtzeitig merken? 

p.s.: Vielleicht habt Ihr es Euch schon gedacht: Meine kleine Geschichte von Roderich Schmitz habe ich frei erfunden. Es ist Halloween, und ich dachte mir, ich erzähle Euch heute einfach mal eine kleine Gruselgeschichte. Hoffentlich hat sie Euch gefallen.

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7 thoughts on “Die Pfeife des Grauens

  1. Gerade bin ich zufällig auf Ihre Seite – und passenderweise auf diese Geschichte – gestoßen. Gefällt mir gut!
    Vielen Dank und liebe Grüße,
    Sebastian

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